Ampel oder Jamaika: alle Wege führen in die Irre
Ein Kommentar von Dagmar Henn
Kennt jemand die Geschichte vom Kreidekreis? Zwei Frauen stritten sich um ein Kind; jede behauptete, es sei das ihre. König Salomo sollte den Streit klären. Er zeichnete mit Kreide einen Kreis auf den Boden, stellte das Kind in die Mitte und erklärte, diejenige, die das Kind herausziehe, sei die Mutter. Daraufhin zogen beide Frauen an den Armen des Kindes, bis eine von ihnen losließ. Worauf Salomo erklärte, das sei die wahre Mutter des Kindes, denn sein Wohl läge ihr mehr am Herzen als der Sieg.
Ganz so einfach ist es nicht zu erklären, warum mir gerade diese Geschichte in den Sinn kommt, wenn es um die augenblicklich laufenden Sondierungsverhandlungen zur Regierungsbildung in dieser Republik geht. Nur, dass dieses Land wohl mutterlos ist, und das ist alles andere als eine Anspielung auf die noch amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Steuern und Klima seien die strittigen Punkte zwischen den Parteien der möglichen Ampel, berichtet die Presse. Weil die FDP keine Steuererhöhungen wolle und die Grünen ganz schnell eine Energiewende. Irgendwie ein reichlich bizarres Theater. Denn grundsätzliche Zweifel an der Leiterzählung Klimawandel gibt es nicht; es geht nur darum, wie die geplante CO2-Abgabe ausgestaltet werden soll und wann welche Kraftwerke abgeschaltet.
Dabei gibt es ein ganz grundsätzliches Problem, das dabei keine Rolle spielen wird – es sieht nicht so aus, als würden unsere Nachbarländer die Klimanummer mittragen, oder gar in gleichem Maß auf Abschaffung von Verbrennungsmotoren setzen; nicht einmal die Regierung Biden in den USA ist imstande, solche Vorgaben durchzusetzen. In wenigen Monaten sind in Frankreich Wahlen, und ganz gleich, wer sie gewinnt, das Resultat wird keine Regierung sein, die Berliner Weisungen umsetzt. Und dann?
Wohlgemerkt, dabei geht es nicht um die Frage, ob und inwieweit die Klimaerzählung stimmt. Nur um die möglichen Konsequenzen, wenn eine (egal welche) Bundesregierung die bisherige Politik weiterverfolgt oder gar verschärft und die anderen europäischen Länder nicht. Wenn eine deutsche Regierung (egal welche) dekretiert, hierzulande keine Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen, in den Nachbarländern aber weiter normale Autos fahren. Und das industrielle Herz Europas Fahrzeuge produziert, die keiner haben will. Oder dann eben nicht mehr produziert.
Eine vernünftige französische Regierung (egal welche) würde mit als Erstes dafür Sorge tragen, das französische Stromnetz bei Bedarf vom deutschen abkoppeln zu können, um es vor einem Übergreifen eines denkbaren deutschen Blackout zu schützen. Eine vernünftige deutsche Regierung (egal welche) würde sich langsam ernsthafte Gedanken machen, wie ein solches Ereignis zu verhindern wäre. Sie würde auch erkennen, dass die bisherigen Pläne, die auf Elektromobilität setzen, letztlich nur zur Abwanderung der Produktionsstätten führen, was für dieses Land langfristig verheerend wäre.
Mit der ganzen E-Mobilität wird umgegangen wie mit dem anderen, vermeintlich ökologischen Unfug auch. Man redet nicht über die wirklichen Probleme. Jedes Abschleppunternehmen kann ein Lied davon singen. Oder die Autohändler, denen die Kisten wieder auf den Hof gestellt werden. Das findet sich weder in der Presse noch in der Politik. Im Gegenteil – der prägende Grundsatz deutscher Politik scheint es zu sein: wenn die Wirklichkeit nicht mit unseren Überzeugungen übereinstimmt, desto schlimmer für die Wirklichkeit.
Die Flut im Ahrtal liegt bald drei Monate zurück. Und jetzt steht schon fest, dass Teile der Region frühestens im März wieder eine funktionierende Gasversorgung haben werden. Wie die Menschen über den Winter kommen? Offensichtlich keine staatliche Aufgabe, so wenig, wie es die Warnung vor der Flut war. So wenig, wie es die Aufräumarbeiten danach waren. Gäbe es noch so etwas wie Verantwortung in der Politik, hätten über diesem Ereignis zwei Landesregierungen stürzen müssen. Stattdessen wurde ein Landrat zum Bauernopfer. Wer sich fragt, wie diese Republik mit einem Blackout zurechtkäme, muss nur einen Blick ins Ahrtal werfen.
Die Grünen haben es uns eingebrockt, dass 80 Prozent der pflanzlichen Nahrungsmittel nicht mehr im eigenen Land produziert werden. Aber es gibt einen Mangel an LKW-Fahrern, an denen die ganz ordinäre, tägliche Versorgung hängt. Und jede in Berlin denkbare künftige Bundesregierung wird, wie die jetzige, alles tun, den Nachbarländern bei jeder sich bietenden Gelegenheit möglichst innig auf die Füße zu steigen. Ist das vernünftig?
Eine der ältesten überlieferten Erzählungen zur Legitimation des Staates ist die vom Traum des Pharao. Darin kamen erst sieben fette, dann sieben magere Kühe; und Joseph, der Held dieser Geschichte, deutete dies als eine Abfolge von sieben ertragreichen Jahren, auf die sieben ertragsarme folgen würden. Daraufhin speicherte der Pharao, offenkundig ein kluger Mann, der wusste, wie man Macht legitimiert, die Überschüsse der sieben fetten Jahre für die sieben mageren und bewahrte so die Ägypter vor dem Hunger.
Ein Staat kann unterschiedlichen Herren dienen, und er mag alles tun, damit die Reichen und Mächtigen reich und mächtig bleiben; aber wenn er die sieben mageren Jahre nicht im Blick hat, verliert er seine Legitimität. Das ist ein Ereignis einer völlig anderen Kategorie als Wahlen, Sondierungsgespräche oder Koalitionsverhandlungen. Die politische Klasse in Berlin verhält sich wie eine Partygesellschaft im Penthouse eines Hochhauses, die sich gegenseitig zuprostet und den tollen Ausblick preist, während im Keller das Fundament zusammenbricht.
Keine der eventuell an der Regierungsbildung beteiligten Parteien hat irgendeine Distanz zur NATO. Seit die Linke an dieser Stelle unter Muskelschwund leidet, gibt es im ganzen Bundestag keine NATO-Gegner mehr. Im Gegenteil, mit einer Regierungsbeteiligung der grünen transatlantischen Eiferer ist sichergestellt, dass die gute alte deutsche Untugend der Nibelungentreue zu neuen Höhen strebt.
Dabei ist die Sachlage für jeden, der die geopolitischen Entwicklungen der letzten Jahre beobachtet hat, glasklar. Die Macht der westlichen Allianz ist bereits gebrochen und wäre nur um den Preis eines globalen Infernos zu retten; auch für die deutsche Machtpolitik wäre Rückzug angesagt. Aber in den in Berlin versammelten Haufen schließt man lieber fest die Augen und macht weiter wie bisher. Dabei dürfte die Macht, anderen Ländern Freihandelsverträge aufzuzwingen, bald der Vergangenheit angehören, selbst wenn das Konstrukt EU stabil bleiben sollte (was nicht garantiert ist). Die Fantasien über eine EU-Armee, die einige in der Berliner Politik hegen, werden an diesem Sachverhalt nichts ändern. Wäre es da nicht an der Zeit, sich ein paar Gedanken über Binnenmarkt und -nachfrage zu machen, statt weiter einseitig auf Rekordexporte zu setzen?
Immerhin, das ganze Corona-Theater hat dafür gesorgt, dass die Bewohner dieser Republik sich übers Impfen zerstreiten, statt die Köpfe der Verantwortlichen für die Flutkatastrophe zu fordern oder eine Abkehr von der E-Mobilität. Es ist auch sehr praktisch, Veranstaltungen, Treffen und Demonstrationen gar nicht erst zu ermöglichen. Aber vielleicht erwacht doch der eine oder andere nachts schweißgebadet und fürchtet den Moment, an dem Corona platzt.
Schließlich sinken die BioNTech-Aktien bereits, und Pfizer unternimmt sichtbare Absetzbewegungen – die Firma plant, demnächst ein Medikament zur Behandlung von COVID-19 auf den Markt zu bringen, womit sie selbst die Voraussetzungen der Notzulassung des Impfstoffes aushebeln würde, die ja mit fehlenden Behandlungsmöglichkeiten begründet wurde…
Momentan sorgt die vermeintliche Fürsorge bei Corona noch dafür, dass die Legitimitätskrise überdeckt wird; als hätte man die bröckelnden Stützpfeiler im Keller ein wenig verputzt und mit neuem Anstrich versehen. Darum wird auch mit solchem Eifer untersagt, Zweifel an den Maßnahmen zu äußern. Natürlich sind diese Maßnahmen undemokratisch, widersprüchlich und nicht wirklich sinnvoll. Aber solange ein guter Teil der Menschen an sie glaubt, erzeugen sie die Illusion, dieser Staat wäre noch imstande, seine grundlegenden Aufgaben zu erfüllen – und zögern damit den Augenblick hinaus, an dem klar wird, dass er eben dies nicht tut.
Das bewahrt aber vor nichts, im Gegenteil. Die globalen Machtverschiebungen sind ebenso real, wie es die grundlegende ökonomische Krise ist, die seit dem Jahr 2007 nur mit hemmungslosem Gelddrucken überdeckt wurde. Darauf gibt es heute ebenso wenig eine Antwort wie vor über zehn Jahren. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer, und es wird getan, als handele es sich dabei um ein Naturgesetz. Und das dadurch erzeugte Elend, das man hier in Berlin auf jeder Straße sehen kann, müsse eben hingenommen werden.
Je länger der tatsächliche Verfall kaschiert wird, desto heftiger werden die Erschütterungen werden, die seine Offenlegung auslöst. Die Berliner Politik leistet sich eine Vorführung, die sich mit allem Möglichen beschäftigt, nur nicht mit den wirklich dringenden Fragen. Und es mag sein, dass alle Beteiligten tatsächlich glauben, es sei alles zum Besten bestellt. Sie hätten alle miteinander das Nötige getan, um diesem Land eine Zukunft zu sichern.
Bert Brecht hat die Geschichte vom Kreidekreis aufgegriffen und umformuliert, in seinem Stück "Der kaukasische Kreidekreis." Der Streit um das Kind wird zu einem Streit um das Land, und das Stück endet mit den Sätzen: "Ihr aber, ihr Zuhörer der Geschichte vom Kreidekreis, nehmt zur Kenntnis die Meinung der Alten: Dass da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind, also die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen, die Wagen den guten Fahrern, damit gut gefahren wird, und das Tal den Bewässerern, damit es Frucht bringt."
Sie alle, die da sitzen, in Berlin, und sondieren, gehören zu jenen, die das Kind eher in Stücke reißen, die die Bewässerungsgräben zuschütten und die Obstbäume abholzen. Dieses Land hat niemanden, der es behütet.
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